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Der Weg aus der Stagnation

Frankfurt am Main, 7. Oktober 2024

Auszug aus der Walter-Eucken-Vorlesung von Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der EZB, erschienen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die Wirtschaft im Euroraum stagniert seit fast zwei Jahren. Laut der jüngsten EZB-Prognose wird das Bruttoinlandsprodukt 2024 real nur um 0,8 % wachsen, mit nach unten gerichteten Risiken. In einigen Ländern wie Deutschland ist die Wirtschaft sogar deutlich schwächer gewachsen. Was erklärt diese Unterschiede und wie kann man der Wachstumsschwäche begegnen?

Ein wichtiger Grund für die Stagnation sind schwere Schocks, wie die Pandemie und die russische Invasion der Ukraine. Zudem spielt die Straffung der Geldpolitik eine Rolle. Um die Preisstabilität wiederherzustellen, dämpfte die EZB durch kräftige Zinserhöhungen die Nachfrage.

Doch obwohl die dämpfende Wirkung der Geldpolitik inzwischen zurückgeht und die realen Einkommen angesichts der rückläufigen Inflation und steigender Löhne anziehen, bleibt das Wachstum verhalten.

Große Unterschiede im Euroraum

Allerdings sind nicht alle Länder gleichermaßen von der Wachstumsschwäche betroffen. Länder wie Malta, Spanien und Portugal wuchsen sogar schneller als früher. Tatsächlich geht die Schwäche auf eine kleine Gruppe von Ländern zurück, darunter Deutschland, Finnland und Estland.

Würde man etwa den Euroraum ohne Deutschland betrachten, wäre die Konjunktur bemerkenswert robust gewesen – trotz der stärksten geldpolitischen Straffung seit Einführung des Euro und eines Krieges vor den Toren der EU. Nur wenige entwickelte Volkswirtschaften sind in diesem Zeitraum rascher gewachsen, insbesondere die Vereinigten Staaten.

Geldpolitik kein Haupttreiber der Heterogenität

Die Geldpolitik spielt eine gewisse Rolle für die beobachteten Unterschiede. Eine Wirtschaft wie die deutsche, deren Herzstück eine starke Industrie ist, reagiert empfindlicher auf Zinsänderungen als stärker dienstleistungsorientierte Volkswirtschaften. Drei Beobachtungen legen jedoch nahe, dass die Geldpolitik wahrscheinlich nicht der Haupttreiber der Heterogenität ist.

Erstens setzte die Stagnation der Produktion in Deutschland lange vor der Zinsanhebung ein. Ende 2021 lag das reale Bruttoinlandsprodukt lediglich 1 % höher als vier Jahre zuvor. Der Euroraum ohne Deutschland verzeichnete in demselben Zeitraum einen Anstieg um 4,9 % und die Vereinigten Staaten sogar um 10 %.

Das heißt, die Wachstumslücke vergrößerte sich schon lange, bevor wir begannen, die Geldpolitik zu straffen.

Zweitens sehen wir Unterschiede selbst in Wirtschaftsbereichen, die stärker auf Zinsänderungen reagieren. In Deutschland ist die Industrieproduktion seit Beginn des Anstiegs der Marktzinsen Ende 2021 viel stärker zurückgegangen als in anderen Volkswirtschaften.

Drittens haben die privaten Haushalte in Deutschland bislang unter dem Strich vom Anstieg der Zinsen profitiert. Seit Ende 2021 ist ihr Zinseinkommen netto kräftig gestiegen, da sie ihre Ersparnisse in höher verzinste Termineinlagen umgeschichtet haben, während die Zinsen für festverzinsliche Immobilienkredite mit langer Laufzeit niedrig blieben.

In Spanien haben hingegen variabel verzinsliche Immobilienkredite zu einem unmittelbaren Anstieg der Zinszahlungen geführt, der den Einkommenszuwachs durch höhere Zinsen auf Ersparnisse mehr als ausgeglichen hat.

Die Auswirkungen der Geldpolitik dürften in Deutschland daher in einigen Bereichen sogar schwächer gewesen sein als in anderen Ländern.

Robustes Wachstum im Süden des Euroraums

Was außer der Geldpolitik kann also die Unterschiede erklären?

Betrachten wir zunächst diejenigen Länder, die schneller gewachsen sind.

Bei diesen spielte der Außenhandel eine wichtige Rolle. Die kräftige Erholung des Tourismus nach der Pandemie sorgte für einen Anstieg der Exporte.

Ebenso wichtig war der robuste Arbeitsmarkt, der den Konsum und das Vertrauen der privaten Haushalte gestützt hat.

Schließlich betrieben einige Länder eine besonders expansive Fiskalpolitik und weisen noch heute erhebliche Haushaltsdefizite auf. Die im Rahmen des „Next Generation EU“-Programms zugewiesenen Mittel gaben Wachstum und Beschäftigung weiteren Antrieb.

Insgesamt wurden also die Auswirkungen der strafferen Geldpolitik in weiten Teilen des Euroraums durch eine lockere Fiskalpolitik und eine Verschiebung der Konsumausgaben hin zu den Dienstleistungen abgemildert.

Darüber hinaus sind einige dieser Volkswirtschaften seit der europäischen Staatschuldenkrise durch Strukturreformen widerstandsfähiger geworden, was ihr überdurchschnittliches Abschneiden mit erklärt.

Selbst wenn die Staatsausgaben künftig an die neuen europäischen Fiskalregeln angepasst werden müssen, sollten die schrittweise Lockerung der restriktiven Geldpolitik und der Anstieg der realen Einkommen das Wachstum weiter stützen.

Deutsche Wirtschaft vor großen Herausforderungen

Dieser stützende Effekt hilft auch den Ländern, deren Wirtschaft in den letzten Jahren stagniert hat, etwa über eine Belebung der Bautätigkeit, die in Deutschland seit 2022 um fast 7 % zurückgegangen ist.

Ein weniger restriktiver geldpolitischer Kurs kann außerdem helfen, eine Übertragung der Wachstumsschwäche von den Kernländern auf die Peripherie zu vermeiden. Allerdings ist die Geldpolitik kein Allheilmittel.

Als Exportnation steht gerade Deutschland vor großen Herausforderungen, die sich nicht allein durch niedrigere Zinsen lösen lassen. Die Risiken einer Strategie, die primär auf Exporte als Wachstumsquelle setzt, sind seit langem bekannt.

Seit 2016 tragen die Nettoexporte nicht mehr zum Wachstum bei, und Deutschland verlor in besorgniserregendem Tempo Marktanteile im Export.

Zuvor hatten deutsche Unternehmen von einem außergewöhnlich starken Wachstum einiger wichtiger Märkte wie China profitiert, wo der Immobilienboom die Nachfrage nach Exportgütern des Euroraums ankurbelte, vor allem nach Investitionsgütern.

Diese Sonderfaktoren haben sich jedoch seit der Pandemie verlangsamt, sodass der spürbare Rückgang der preislichen Wettbewerbsfähigkeit zutage tritt.

Exportgetriebenes Wachstumsmodell erfordert Anpassung

Drei Gründe sprechen dafür, dass das exportorientierte Wachstumsmodell vor strukturellen Herausforderungen steht und Anpassungen erforderlich sind.

Erstens verschärft sich die geoökonomische Fragmentierung. Weltweit kommen immer neue Handelsbeschränkungen hinzu, gerade bei kritischen Rohstoffen. Die Zeiten, in denen die Globalisierung Handel und Wachstum beflügelte, könnten also vorbei sein.

Da europäische Unternehmen stärker in globale Wertschöpfungsketten eingebunden sind als viele ihrer Wettbewerber, dürfte die Fragmentierung den Euroraum mehr beeinträchtigen als andere.

Zweitens zeigt der Energiepreisschock eine anhaltende Wirkung. Anders als bei früheren Ölpreisschocks, die Unternehmen weltweit betrafen, stiegen die Inputkosten hierzulande besonders stark an. Die Energiekosten sind noch immer fast viermal so hoch wie in den Vereinigten Staaten. Dies erklärt einen erheblichen Teil des Rückgangs der Marktanteile im Export.

Drittens wandelt sich die Wettbewerbssituation. China produziert längst nicht mehr nur Waren von geringem Wert wie Bekleidung, Schuhe oder Kunststoffe. Das Land baut immer mehr Produktionskapazitäten in Industrien mit hoher Wertschöpfung auf, etwa im Automobilbereich und im Bau von Spezialmaschinen.

Unternehmen aus China und dem Euroraum konkurrieren also immer mehr um ähnliche Exportmärkte. Gleichzeitig erhalten chinesische Unternehmen umfangreiche staatliche Subventionen, und steigende Überkapazitäten drücken die chinesischen Exportpreise.

Chinas Aufstieg dämpft also nicht nur direkt die Nachfrage nach Gütern aus dem Euroraum, sondern er macht China zudem zu einem starken Wettbewerber in Drittmärkten.

Innovation und Unternehmertum im Mittelpunkt

Europa, und insbesondere Deutschland, muss sich an dieses neue Umfeld anpassen. In einer Zeit, in der die globalen Wirtschaftsbeziehungen unsicherer werden, muss Europa seine Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen, um den Lebensstandard seiner Bevölkerung zu sichern und seine sozialen Werte zu schützen.

Seit Jahren fällt der Euroraum in der Produktivitätsentwicklung hinter die USA zurück. Einer der Hauptgründe ist, dass europäische Unternehmen es versäumt haben, die Effizienzgewinne aus der Digitalisierung zu nutzen.

Frühere Bemühungen, Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen, warfen Probleme auf. So gingen Maßnahmen zur Lohnkostensenkung oftmals mit erheblichen sozialen Kosten einher.

Heute muss der Schwerpunkt anders gesetzt werden. Europa sollte Innovation und Unternehmertum in den Mittelpunkt seiner Agenda stellen.

Viele Reformen erfordern weder erhebliche Vorabinvestitionen noch eine Änderung des EU-Vertrags. Drei Bereiche sind aus meiner Sicht am vielversprechendsten.

Ein europäisches Silicon Valley

Erstens müssen die Gründung und das Wachstum innovativer Start-up-Unternehmen einfacher werden.

Europa mangelt es nicht an Innovationspotenzial. Allerdings hadern junge Unternehmen mit unterschiedlichen Vorschriften und Rechtssystemen entlang nationaler Grenzen. Diese machen es schwierig, die notwendige Größe zu erreichen und Innovationscluster zu bilden.

Europa braucht außerdem einen tieferen Kapitalmarkt. Aufgrund mangelnden Risikokapitals in Europa verlagern viele vielversprechende Start-ups ihre Aktivitäten ins Ausland. Im Jahr 2022 stammten in den Vereinigten Staaten 58 Gründer von „Unicorns“ – also Start-ups mit einem Marktwert von über einer Milliarde US-Dollar – gebürtig aus dem Euroraum. Will Europa dieses Potenzial bewahren, müssen Private-Equity-Investitionen attraktiver werden.

Ebenso wichtig ist es, den Binnenmarkt zu stärken, Wettbewerb zu fördern und Bürokratie abzubauen.

Der Binnenmarkt ist und bleibt Europas effektivstes Mittel, um Skaleneffekte zu mobilisieren und die Schaffung eines europäischen Silicon Valley zu ermöglichen. Allerdings ist der Grad der europäischen Integration gerade bei den Dienstleistungen enttäuschend.

Grüne Innovation als Wachstumsmotor

Zweitens muss Europa die grüne Transformation als Wachstumsmotor nutzen. Wetterbedingte Katastrophen werden immer häufiger, und ihr Schweregrad nimmt zu.

Es führt kein Weg daran vorbei, die europäischen Volkswirtschaften nachhaltiger zu machen. Zwar ist die grüne Wende mit Kosten für die Gesellschaft verbunden. Aber sie bietet auch wirtschaftliche Chancen, insbesondere für den „First Mover“.

Betrachten wir beispielsweise die Automobilindustrie. In den letzten Jahren haben die Automobilhersteller des Euroraums Exportmarktanteile eingebüßt. Allerdings beschränkten sich diese Verluste weitgehend auf die Verbrennungsmotoren. Bei Elektroautos konnten Firmen aus dem Euroraum zulegen, auch weil sie früh mit der Entwicklung hybrider Technologien begonnen hatten.

Dies ist das Ergebnis beträchtlicher Investitionen in Forschung und Entwicklung, wo die Automobilhersteller im Euroraum weiterhin Weltspitze sind: Sie investieren doppelt so viel wie ihre Wettbewerber aus den Vereinigten Staaten und China. Die grüne Industrie ist der einzige innovative Sektor, in dem die EU bei der Anzahl von Patenten derzeit führend ist.

Jetzt ist nicht die Zeit, einen Rückzieher zu machen. Europa muss weiterhin in grüne Technologien und Innovationen investieren, um die grüne Transformation zu einem Wachstumsmotor zu machen.

Je schneller Europa seinen Energieverbrauch dekarbonisiert, desto schneller wird es seine Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten verringern und seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen. Dies ist umso wichtiger in Zeiten der Revolution der Künstlichen Intelligenz, die die Nachfrage nach Energie beträchtlich steigern wird.

Die grüne Wende erfordert private und öffentliche Investitionen, zum Beispiel für die Verbesserung des europäischen Stromnetzes und den Aufbau von Tankstellennetzen für Wasserstoff. Um diesen Prozess voranzutreiben, könnte eine missionsorientierte Industriepolitik hilfreich sein, die sich strategisch darauf konzentriert, die grüne Transformation durch koordinierte Anstrengungen zu erreichen, und dadurch Unsicherheit verringert.

Der Umfang dieser Investitionen erfordert neue Finanzierungsideen. Oft sind diese Investitionen kostenintensiv und mit so großen Unsicherheiten über ihre künftigen Erträge behaftet, dass die Gewinnschwelle womöglich nicht innerhalb konventioneller Investitionshorizonte erreicht wird.

Dann können in einigen Fällen Public-Private-Partnerships eine gangbare Option sein. Ebenso könnte die Gewährung staatlicher Garantien private Firmen dazu animieren, in grüne Infrastruktur und Technologien zu investieren.

Dem Arbeitskräftemangel entgegenwirken

Schließlich muss Europa dem Arbeitskräftemangel entgegenwirken. Eine höhere Lebenserwartung und sinkende Geburtenraten werden die erwerbsfähige Bevölkerung im Euroraum deutlich verringern und zu einem signifikanten Anstieg des Altenquotienten führen.

In den letzten zehn Jahren wurde diese Entwicklung teilweise durch Zuwanderung abgemildert. Aber nun erreichen die geburtenstarken Jahrgänge das Rentenalter, während die Zuwanderung eher abnimmt.

Um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken, sind vier Maßnahmen erforderlich. Erstens sollte die Erwerbsbeteiligung weiter erhöht werden. Schon heute arbeiten mehr Frauen und ältere Menschen als früher. Doch die Erwerbsbeteiligung ist noch immer niedriger als in anderen entwickelten Volkswirtschaften.

Zweitens muss die Ressourcenallokation effizienter werden. Ein großer Teil des Beschäftigungswachstums der vergangenen Jahre entfiel auf den öffentlichen Sektor, teilweise bedingt durch die Gesundheitskrise. Doch je größer der öffentliche Sektor wird, desto weniger Humankapital steht den privaten Unternehmen für den Ausbau ihrer Geschäftstätigkeit zur Verfügung.

Drittens muss Europa die Bildung stärken. In vielen Ländern hat ein erheblicher Anteil der Erwachsenen im Euroraum keinen sekundären Schulabschluss. Bildung hilft dabei, die Vorteile neuer Technologien auszuschöpfen, und kann auch den demografischen Problemen entgegenwirken, denn ein höheres Bildungsniveau führt tendenziell zu mehr Erwerbsbeteiligung.

Schließlich muss Europa Arbeitskräfte aus dem Ausland gewinnen. Hierzu muss gesellschaftliche Akzeptanz für Zuwanderung geschaffen und die Arbeitnehmermobilität im Euroraum gefördert werden.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das unterschiedliche Wachstum im Euroraum nicht in erster Linie durch die Geldpolitik verursacht wurde. Stattdessen bremsen strukturelle Herausforderungen das Wachstum in einigen Ländern wie Deutschland.

Als Zentralbank können wir die Wachstumsabschwächung nicht ignorieren. Angesichts einer nachlassenden Arbeitsnachfrage und weiteren Fortschritten bei der Inflation wird ein nachhaltiger Rückgang der Inflation auf unser Ziel von 2 % in angemessener Zeit wahrscheinlicher, selbst wenn die Dienstleistungsinflation nach wie vor hoch bleibt und die Löhne kräftig wachsen.

Aber die strukturellen Probleme kann die Geldpolitik nicht lösen.

Die europäischen Regierungen tragen eine historische Verantwortung, die aktuellen Herausforderungen in Chancen zu verwandeln. Europa hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass es sich anpassen und erholen kann, wenn es mit widrigen Umständen konfrontiert wird.

Um der Stagnation zu entkommen, sind entschlossene Maßnahmen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene erforderlich. Wir müssen Innovation und Unternehmertum in den Vordergrund stellen, indem Wettbewerb und Unternehmensdynamik gefördert werden.

Dies bedeutet, den Binnenmarkt zu stärken, den Zugang zu privatem Beteiligungskapital zu verbessern und übermäßigen Bürokratieaufwand abzubauen. Es bedeutet, die grüne Transformation zu nutzen, um Innovationen voranzutreiben und preisliche Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen. Und es bedeutet, Maßnahmen zu ergreifen, die die Anreize für die Teilnahme am Arbeitsmarkt verbessern und durch Zuwanderung und Bildung qualifizierte Arbeitskräfte sichern.

Auf diese Weise können wir den Euroraum stärker machen.