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Geldpolitik im Euroraum: aufmerksam und fokussiert
Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, im Rahmen der Dialogreihe „Inflation kills democracy“ anlässlich des 100. Jahrestages der Währungsreform in Deutschland 1923, veranstaltet vom Bundesministerium der Finanzen in Berlin
Berlin, 21. November 2023
Die Ereignisse in Deutschland in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg erinnern uns eindrücklich daran, dass Preisstabilität und Demokratie Hand in Hand gehen.
Der Historiker Gerald Feldman bezeichnete diese turbulenten Jahre als „the Great Disorder“.[1] Auch wenn noch umstritten ist, in welchem Ausmaß die Hyperinflation der 1920er Jahre und die Deflation der 1930er Jahre zu dieser „großen Unordnung“ beigetragen haben, ist kaum von der Hand zu weisen, dass die heftigen Preisschwankungen das wirtschaftliche Fundament der Demokratie aushöhlten.
Dies geschieht beispielsweise, weil Preisinstabilität starke Verteilungseffekte mit sich bringt, die häufig die ärmsten Menschen in der Gesellschaft am härtesten treffen. So zeigen EZB-Analysen, dass sich der kräftige Inflationsanstieg in den letzten 18 Monaten unverhältnismäßig stark auf einkommensschwache Haushalte ausgewirkt hat, da sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für Bedarfsgüter wie Energie und Nahrungsmittel ausgeben, deren Preise in die Höhe geschnellt waren.[2]
Nicht zuletzt deshalb wurden in den meisten liberalen Demokratien die Zentralbanken mit dem Mandat betraut, Preisstabilität zu gewährleisten. Die EZB wird bei der Erfüllung ihres Mandats niemals Abstriche machen. Aus diesem Grund haben wir angesichts der steigenden Inflation die Zinssätze – so rasch wie nie zuvor – in nur gut einem Jahr um 450 Basispunkte angehoben. Und wir werden die Inflation zeitnah zu unserem mittelfristigen Ziel zurückführen.
Nach einer so umfangreichen und zügigen Anpassung hat der geldpolitische Zyklus nun jedoch eine Phase erreicht, in der ich unser Handeln als „aufmerksam und fokussiert“ beschreiben würde.
Wir müssen die verschiedenen Faktoren, die sich auf die Inflation auswirken, aufmerksam beobachten. Hierzu gehören das Nachlassen vergangener Energieschocks, die Stärke der geldpolitischen Transmission, die Lohndynamik und die Entwicklung der Inflationserwartungen. Gleichzeitig müssen wir weiterhin darauf fokussiert sein, die Inflation zu unserem Zielwert zurückzuführen, und dürfen uns nicht von kurzfristigen Entwicklungen zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten lassen.
Inflationsdämpfende Faktoren
Derzeit dämpfen vor allem zwei Faktoren die Inflation.
Erstens, die Energie- und Lieferkettenschocks, die beim sprunghaften Anstieg der Inflation im letzten Jahr eine wesentliche Rolle spielten, lassen jetzt nach.
Als die Gesamtinflation im Euroraum ihren Höchststand erreichte, entfielen mehr als zwei Drittel auf Energie und Nahrungsmittel, obwohl diese beiden Komponenten weniger als ein Drittel des Warenkorbs ausmachen. Zusammen mit den Störungen in den Lieferketten hatte dies auch einen erheblichen Effekt auf die Kerninflation, also die Inflation ohne Energie und Nahrungsmittel, da die Vorleistungskosten für Unternehmen in der gesamten Wirtschaft anzogen.[3]
Daher überrascht es nicht, dass wir angesichts wieder besser funktionierender Lieferketten und sinkender Energiepreise den umgekehrten Effekt beobachten und sowohl die Gesamtinflation als auch die Kerninflation zurückgehen.
Die Gesamtinflation dürfte in den kommenden Monaten wieder ansteigen, vor allem aufgrund von Basiseffekten. Darin spiegeln sich der deutliche Rückgang der Energiekosten Ende letzten Jahres sowie die Rückführung einiger Fiskalmaßnahmen wider, die zur Bekämpfung der Energiekrise ergriffen worden waren. Der Inflationsdruck dürfte sich aber insgesamt weiter abschwächen.
Der zweite Faktor besteht in den Auswirkungen der geldpolitischen Straffung.
Als die Inflation in die Höhe schnellte, mussten wir die Geldpolitik kräftig straffen, um Nachfrage und Angebot in Einklang zu bringen und um die Inflationserwartungen zu verankern. Diese geldpolitische Anpassung hat sich rasch in den Finanzierungsbedingungen niedergeschlagen. In ihrer Gänze werden sich diese Anpassungen aber erst mit Verzögerung auf die Inflation auswirken. Nie zuvor wurde die Geldpolitik in einem solchen Ausmaß und Tempo gestrafft. Daher herrscht eine gewisse Unsicherheit darüber, wie stark der Effekt ausfallen wird.
Wir müssen also aufmerksam verfolgen, wie diese Faktoren auf die Wirtschaft durchschlagen. Angesichts des Ausmaßes unserer geldpolitischen Anpassung können wir ihnen jetzt etwas Zeit geben, um sich zu entfalten.
Deshalb haben wir Leitzinsen bei unserer letzten Sitzung auf ihrem aktuellen Niveau belassen. Und auf Grundlage unserer aktuellen Beurteilung sind wir der Auffassung, dass sich die EZB-Leitzinsen auf einem Niveau befinden, das – wenn es lange genug aufrechterhalten wird – einen erheblichen Beitrag dazu leisten wird, dass die Inflation zeitnah zu unserem mittelfristigen Ziel zurückgeführt wird.
Persistente Inflation verhindern
Für eine Entwarnung ist es jedoch zu früh. Angesichts des Verlaufs des Inflationsprozesses im Euroraum werden wir auch die Risiken einer persistenten Inflation weiterhin aufmerksam verfolgen müssen.
Da die Lohnsetzung im Euroraum gestaffelt über mehrere Jahre erfolgt, haben die hohen Inflationsraten der Vergangenheit gegenwärtig noch erheblichen Einfluss auf die Tarifvereinbarungen. So lag beispielsweise die Jahreswachstumsrate[4] des Arbeitnehmerentgelts je Arbeitnehmer im zweiten Quartal 2023 bei 5,6 % und damit 1,2 Prozentpunkte über dem Durchschnitt für das Jahr 2022.
Zudem werden die Möglichkeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, höhere Löhne zu erhalten, durch den angespannten Arbeitsmarkt und die starke Nachfrage nach Arbeitskräften begünstigt. Letztere hat sich seit Ende 2022 vor dem Hintergrund der abkühlenden Wirtschaft erstaunlich gut behauptet.
Unseres Erachtens handelt es sich bei den kräftigen Lohnzuwächsen bislang vor allem um „Aufholeffekte“, die mit dem Preisauftrieb in der Vergangenheit zusammenhängen. Wir erkennen bislang keine Eigendynamik, die mit höheren Inflationserwartungen einherginge. Damit wir aber einschätzen können, wie sich die Löhne verändern und ob sie ein Risiko für die Preisstabilität darstellen, werden wir einige Entwicklungen genau beobachten.
Erstens: Ob Unternehmen die höheren Löhne über ihre Gewinnmargen[5] auffangen, wodurch sich die bisherigen Reallohnverluste teilweise ausgleichen ließen, ohne dass die Lohnerhöhungen in vollem Umfang auf die Inflation durchschlagen.
Zweitens: Ob sich die Lage am Arbeitsmarkt etwas entspannt, wodurch verhindert würde, dass der Nachfrageüberhang auf dem Arbeitsmarkt zu dauerhaft hohen Lohnforderungen beiträgt.
Und drittens: Ob die Inflationserwartungen verankert bleiben, was sicherstellt, dass sich Lohn- und Preissetzung an unserem Inflationsziel von 2 % ausrichten, wenn der gegenwärtige Schock abklingt.
Mit anderen Worten: Wir müssen die Entwicklungen aufmerksam verfolgen, bis wir eindeutige Belege dafür sehen, dass die Voraussetzungen für eine dauerhafte Rückkehr der Inflation zu unserem Zielwert gegeben sind.
Aus diesem Grund haben wir gesagt, dass unsere künftigen Beschlüsse dafür sorgen werden, dass unsere Leitzinsen so lange wie erforderlich auf ein ausreichend restriktives Niveau festgelegt werden. Außerdem haben wir gesagt, dass sich diese künftigen Beschlüsse nach den neu verfügbaren Daten richten. Sollten sich also vermehrt Risiken abzeichnen, dass wir unser Inflationsziel verfehlen, können wir jederzeit Maßnahmen ergreifen.
Schlussbemerkungen
Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.
Angesichts eines erheblichen Inflationsschocks haben wir unsere Geldpolitik erheblich angepasst. Diese Anpassungen zeigen zunehmend Wirkung und der Inflationsdruck lässt nach.
Wir sind aber noch nicht am Ziel.
In der aktuellen Phase unserer Geldpolitik müssen wir die verschiedenen Einflussfaktoren der Inflation aufmerksam verfolgen und den Fokus stets unbeirrt auf unser Preisstabilitätsmandat richten.
G. Feldman, The Great Disorder: Politics, Economics, and Society in the German Inflation, 1914-1924, Oxford University Press, 1993.
Siehe A. Bobasu, V. di Nino und C. Osbat, Folgen des jüngsten Inflationsschubs für die privaten Haushalte, Abschnitt 4. Der Vermögenskanal, Wirtschaftsbericht 3/2023, EZB, Mai 2023. Eine andere Studie der EZB schaut sich den Effekt der Fiskalmaßnahmen auf Haushalte mit niedrigem Einkommen an. Siehe F. Pallotti, G. Paz-Pardo, J. Slacalek, O. Tristani, G. Violante, Who bears the costs of inflation? Euro area households and the 2021-2011 shock, Working Paper Series der EZB, Nr. 2877, 2023.
EZB-Analysen zufolge waren die positiven Abweichungen der Kerninflation von ihrem langfristigen Mittelwert in den ersten sechs Monaten des Jahres fast zur Hälfte auf Energieschocks und Lieferkettenstörungen zurückzuführen. Siehe M. Bańbura, E. Bobeica und C. Martinez Hernández What Drives Core Inflation? The Role of Supply Shocks, Working Paper Series der EZB, Nr. 2875, 2023.
Dreimonatsdurchschnitt.
2022 entfielen rund zwei Drittel der Inflation im Euroraum auf Stückgewinne. Dies lag deutlich über dem historischen Durchschnitt von rund einem Drittel.
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